Chorleben - S-Chorverband

Für mich ist wichtig, dass Musik Communities zusammenbringt

Ein Gespräch mit Simon Halsey über das Grundschulprojekt SING u.a.

Foto: MatthiasHeyde

Mehr noch als im spielorientierten Kindergarten werden in der Grundschule die Weichen für musikaffine Lebensläufe gestellt. Dies gilt für alle Formen ästhetischer Bildung, aber auch für Bewegung und eine gesundheitsbewusste Lebensweise.

Was im 19. Jhdt. selbstverständlich war (siehe Friedrich Schillers Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 1795), musste in den letzten Jahrzehnten in seiner Bedeutung erst wieder erkannt und neu installiert werden. Bei den musikalischen Aktivitäten in der Grundschule gehört die an der Jahrtausendwende in Stuttgart entstandene Stiftung „Singen mit Kindern“ zweifelsfrei zu den Vorreitern eines singbetonten Musikunterrichts in der Grundschule. Nahezu gleichzeitig entstand in England das Projekt „Sing up“, das wiederum Vorbild für Simon Halsey und seine Aktivitäten an Berliner Grundschulen war. Mareike Layer sprach für die Zeitschrift SINGEN mit dem Chefdirigenten des Rundfunkchors Berlin.

SINGEN: Seit einiger Zeit gibt es das Projekt „SING!“ an drei Grundschulen in Berlin, das sich zum Ziel gesetzt hat, das Singen mit Kindern im Grundschulbereich unter professioneller Anleitung zu fördern. Wie ist das Projekt entstanden und welche Parallelen gibt es zu bestehenden Projekten?

Simon Halsey: Zunächst, 1985 war ich bei einer Konferenz in Oxford, wo viele Dirigenten zusammengekommen sind. Wir waren der Meinung, wir sind in einer Krise mit der Chormusik. Alle, die singen sind älter geworden. Die jungen Leute singen nicht mehr so oft, wie in der Vergangenheit. – Als ich Kind war, haben noch alle jeden Tag in der Schule gesungen, und zwar in allen Schulen. In den 70er und 80er Jahren ist es schlechter und schlechter geworden. 1985 hat eine ganze Generation von Dirigenten gesagt, wir müssen etwas tun. So haben wir angefangen Jugendchöre zu gründen und wir haben uns auch mit den Verantwortlichen in Regierung in Westminster gesprochen. 2000, also nach 15 Jahren, hat Tony Blair, der damals an der Regierung war, gesagt: Ja, wir verstehen, Chormusik ist ganz wichtig. Und jetzt haben wir seit etwa 2000 ein Projekt, es heißt „Sing up“, mit einer jährlichen Förderung von zehn Millionen Pfund.

Das Ziel ist, dass in ein paar Jahren alle Grundschüler wieder singen, und zwar jeden Tag, wie in der Vergangenheit. Dafür wollen wir zwei verantwortliche Lehrer und Lehrerinnen pro Schule, die Gesangstraining mit Dirigenten bekommen. Es sind nicht Musikspezialisten gemeint, sondern normale Lehrer und Lehrerinnen. Wichtig ist nicht, dass die Schüler einen Chor haben, aber dass alle singen. Vielleicht gibt es zusätzlich einen Chor für Schüler, die besondere Musik machen wollen, aber es ist vor allem wichtig, dass alle singen. Wir wissen schon, dass über 80% der Schulen diese Arbeit bereits machen. Als ich das in England gesehen habe, habe ich gedacht, dass wir auch hier so ein Projekt brauchen. Und natürlich ist das Ziel auch hier, dass alle singen, aber wir müssen klein anfangen. Deshalb beginnen wir mit drei Grundschulen hier in Berlin und werden sehen, was möglich ist. Ich weiß, dass nicht nur wir ein kleines Projekt haben, sondern dass es überall in Deutschland Projekte gibt. Was wirklich wichtig ist, ist, dass Chormusik, so wie in England, jetzt eine Renaissance gehabt hat, weil eine ganze Generation gesagt hat: Wir brauchen eine Renaissance. Ich habe das Gefühl, dass in Deutschland so viele etwas verbessern wollen. Unser Chor ist nun erst mal verantwortlich für eine kleine Ecke hier in Berlin und alle anderen – in Bremen oder München – sind ebenso verantwortlich in ihren Städten etwas zu tun. So dass in 20 Jahren vielleicht wieder alle singen. Oder die Chöre jünger sind, die Chormusik lebendiger ist, das Repertoire breiter.

SINGEN: Der Rundfunkchor Berlin hat als professioneller Chor natürlich eine besondere Mission, da die Schüler, die noch gar nicht singen, beeindruckt werden, von dem, was man mit der Stimme professionell machen kann. Können Sie sich, insofern es gut funktioniert, vorstellen, das Projekt auszuweiten, möglicherweise auch auf bereits bestehende Kooperationen?

Simon Halsey: Es ist richtig, dass wir, die Profichöre, verantwortlich sind für Spitzenniveau im Chorbereich. Wir können aber nicht nur für uns in einem Studio stehen und Konzerte geben. Natürlich machen auch viele andere Orchester, besonders die Berliner Philharmoniker, diese Education Arbeit. Sonst gibt es in der Zukunft keine Musik mehr.

SINGEN: Im September findet in Dortmund erstmals die „chor.com“ statt, ein Fachkongress für die deutsche und europäische Chorszene. Sie sind mit dem Rundfunkchor Berlin mit am Start dabei. Haben Sie vor, in der Entwicklung dieses Großprojekts auch weiter beteiligt zu sein? Die Messe wird ja voraussichtlich alle zwei Jahre stattfinden.

Simon Halsey: Zunächst, ich habe damals mit vier oder fünf Musikern die „Association of British Choral Directors“ gegründet. Sie ist kleiner als, was wir hier in Deutschland mit dem Chorverband haben. Aber, sie wurde 1982 gegründet und ist sehr wichtig für die Zukunft der Chormusik in England. Deshalb liegt diese Arbeit wirklich „am Herz“, wie man sagt. Und wenn wir auch hier in Berlin helfen können, dann natürlich sehr gerne.

Ich habe ein Buch geschrieben über das, was ich persönlich gelernt habe. Es geht mir darum zu zeigen, dass wenn man Musik liebt, man eine Reise antreten kann. Jede Reise ist natürlich anders, meine ist ganz anders als die der anderen Profidirigenten. Zum Beispiel habe ich zuerst gesungen, dann habe ich mit 14 Jahren zu dirigieren begonnen, ich habe aber nie in einer Hochschule studiert. In den 70er Jahren hat in England niemand, der Dirigent werden wollte, studiert. John Elliot Gardener, Simon Rattle, Norrington… Alle lieben sie Musik, sie haben begonnen zu dirigieren und man sieht dann was geht und was nicht. – Das ist natürlich nicht gut. Ich habe jetzt in England einen Masters‘ Course für Chordirigenten gegründet, denn, ohne Frage, sie brauchen diese Arbeit. Aber die Tradition, die wir haben, das heißt Dirigenten, die die Musik wirklich lieben, diese Tradition ist auch nicht schlecht. Es ist nicht zu complicated, kompliziert. In diesem Jahr war ich in Yale in den USA. Da ist eine tolle Universität, aber man muss drei Jahre Bachelors, zwei Jahre Masters und zwei Jahre Doctorat machen – das sind sieben Jahre! Die Ausbildung ist unglaublich, aber ich weiß nicht, ob die jungen Leute wirklich Lust haben, Musik zu machen. Wir brauchen ganz einfach eine Mischung.

SINGEN: Der Rundfunkchor Berlin nennt sich in seinem Präsentationstext auch „Kulturbotschafter“. Ich habe diesen Gedanken auf mehreren Ebenen wiedergefunden, auch in dem neuen SING!-Projekt, wo es unter anderem darum geht, interkulturelles Liedgut zu entwickeln. An anderer Stelle wird auch auf die Besonderheit der Sprache verwiesen. Der Rundfunkchor legt Wert auf die richtige Artikulation von Musikwerken. Kann man sagen, dass hier auch das Aneignen einer fremden Mentalität über die Sprache versucht wird? Inwieweit geht es um ein Verstehen gerade auch über die Sprache?

Simon Halsey: Ja, das ist richtig. Ich möchte dazu zwei sehr unterschiedliche Antworten geben. Die eine scheint selbstverständlich. Und zwar, wenn man gut gesungen hat, spricht man besser, als wenn man nicht gesungen hat. Wunderbare deutsche Musik zu singen zum Beispiel und deutschen Text zu lernen, Gedichte zu lernen, das ist auf der einen Seite ganz wichtig. In einer multicultural, einer Multi-Kulti-Stadt wie Berlin brauchen wir aber auch Brücken. So machen wir zum Beispiel Projekte mit den Turkish communities. Ich habe auf diese Weise schon viele türkische Lieder gesungen und dirigiert und ich habe ein Gefühl für türkische Musik entwickelt. Wenn ich dann zum Beispiel in einem Taxi bin und mit dem Taxifahrer spreche, der aus Istanbul kommt, und wir sprechen, so fühle ich, dass wir etwas in commun, etwas gemeinsam haben. Ebenso wichtig ist es auf der anderen Seite für die türkischen Chöre, die sehr gut sind, Mozart zu singen, das heißt deutsche Musik zu kennen und zu verstehen. Wir haben zum Beispiel Mozarts „Ave Verum“ zusammen gemacht, und zwar nicht mit Kammerorchester, sondern mit türkischen Instrumenten (Halsey ahmt den dunklen Zitter-Klang der Instrumente nach) – Toll! Selbstverständlich hat Mozart auch selbst türkische Musik verwendet in „Entführung aus dem Serail“ und in einigen Symphonien. Für mich ist wichtig, dass Musik Communities zusammenbringt.

Das Interview können Sie in Auszügen in der Zeitschrift SINGEN, Ausgabe Juli 2011 nachlesen. Simon Halsey ist Artist in Residence bei der chor.com im September in Dortmund. Der Schwäbische Chorverband wird mit mehreren Autoren hier im Blog direkt von dort berichten.

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Archivnutzer_SingenundStimme_Blog, 1. Jul 2011, Chorfeste, Chorpraxis, Kinderchöre, Singen und Stimme, Kommentare per Feed RSS 2.0,Kommentare geschlossen.

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